„Das Beste kommt erst noch“

 

Ein Neubaugebiet. An einem sonnigen Tag. Wie schon vor knapp einem halben Jahr stehe ich vor einer fremden Haustür und warte darauf, dass sie sich öffnet. Nur der Ort ist dieses Mal ein anderer. Heute bin ich in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Elmshorn. Mein Navi im Auto hat mich dreimal falsch abbiegen lassen – so neu ist das ganze Gebiet. Ich blicke mich um. Ein überdachter Eingangsbereich an der hell verklinkerten Stadtvilla, Pflanzenkübel neben der Tür, ein Windlicht. Da geht die Tür auf. Ich schaue direkt in blaue, sehr wache Augen. Ein herzliches Lächeln. „ Hallo, ich bin Sandy, komm rein!“

 

Es ging alles sehr schnell. Mit dem Sterben. Und es kam so plötzlich, dass Sandy oft heute noch das Gefühl hat, dass Dennis gleich die Treppe herunter kommt. In Sporthose und T-Shirt, einem breitem Grinsen im Gesicht, die Laufschuhe schon fast in der Hand. Dennis war Sandys Mann. Seit über zwanzig Jahren waren die beiden zusammen. Bis zum 1. Juni 2018. An diesem Tag verlor der 40-Jährige den Kampf gegen den Krebs. Erst viereinhalb Monate zuvor hatte der Versicherungskaufmann die Diagnose bekommen. Ein Muttermal am Arm blutete immer wieder, der Besuch beim Arzt und die darauffolgende Entfernung und Untersuchung des Gewebes brachte Gewissheit: Malignes Melanom, auch bekannt als Schwarzer Hautkrebs. 

 

Im Flur riecht es nach Lavendel und Eukalyptus. Ich ziehe meine Schuhe aus, folge Sandy ins Wohnzimmer. Zwei riesige schwarz-weiße Fotos fangen sofort meinen Blick ein. Zwei Mädchen lachen mir entgegen. „Das sind Sarah und Emma, meine Töchter“, erklärt mir die 41-Jährige, als sie meinen Blick bemerkt. „Die Große ist 13, die Kleine neun Jahre alt.“ Wir setzen uns. Sandy schenkt Tee ein. „Mit Kaffee kann ich nicht mehr dienen. Den hat Dennis hier als einziger getrunken“, sagt sie entschuldigend. „Ich hoffe, das ist okay.“ Dampf steigt hoch aus den zwei Bechern. Ich starte das Aufnahmegerät. 

 

Fast neun Monate ist das alles her. Seitdem lebt die selbstständige Ernährungs- und Gesundheitsberaterin mit ihren Töchtern allein in dem großen Haus. 2015 waren sie aus Kummerfeld hierher gezogen, Dennis und sie hatten noch viele Pläne. Mit dem Haus und dem Grundstück. Die müssen jetzt warten. 

 

„Das Verrückte ist: Es ging ihm eigentlich recht gut. Auch nach der Diagnose. Niemals hätten wir gedacht, dass es so schnell gehen würde. Auch die Ärzte haben uns das nie so gesagt.“ Sandy nimmt einen Schluck von ihrem Tee und schaut mich an. „Deshalb haben wir auch erstmal nur der engsten Familie und Dennis’ Arbeitskollegen davon erzählt. Wir dachten, wir kriegen das wieder hin.“ Erstmal sah es auch alles danach aus. Dennis ging weiter arbeiten, stellte seine Ernährung um, ging laufen, war offen für alternative Heilmethoden, aber der Krebs hatte offenbar bereits zu weit gestreut. Die weiteren Untersuchungen zeigten, dass die Metastasen sich schon in der Leber, der Milz, im Gehirn und höchstwahrscheinlich auch in der Lunge ausgebreitet hatten. Es war zu spät. Die Uhr tickte bereits – unbemerkt.

 

Ein Nachbar geht draußen am Fenster vorbei. Einen Eimer in der einen, eine Gartenharke in der anderen Hand. Weiter rechts ist ein großer Teich im Rohzustand zu sehen, abgedeckt mit einem großen Netz. „Das war Dennis’ Ding. Im Teich schwimmen unsere Haustiere. Koi-Karpfen, die waren sein Hobby.“ Ein wehmütiges Lächeln umspielt Sandys Gesicht, sie streicht sich eine Strähne ihrer dunklen Haare hinter das Ohr. „ Ich weiß noch nicht, was mit diesem Riesenteich passieren soll. Letzten Sommer, als es so heiß war, haben wir ihn zum Schwimmteich umfunktioniert. Da war sowieso alles egal.“ Ich nicke, Sandy schenkt uns Tee nach. Der Nachbar draußen beginnt Blätter zusammen zu harken. Ein Hund bellt.  

 

Ende Mai spitzte sich die Lage dann plötzlich zu. Ein zweiter heftiger epileptischer Anfall in kurzer Zeit, Notarzt, Krankenhaus und dann die Entscheidung für die Verlegung auf die Palliativstation im Klinikum Rissen. „Das war am Mittwoch. Er hat noch gesagt, dass er mich liebt, hat meine Hand gestreichelt. Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen.“ Es ist still ganz hier im Haus. Sandy atmet einmal tief ein, setzt sich etwas auf, zieht die Schultern zurück. „Er ist einen Tag später dann nicht mehr ansprechbar gewesen und da habe ich ihm gesagt, dass er gehen kann, wenn er möchte. Ich habe ihm gesagt, dass es schön mit ihm war, dass ich den Weg noch mal gehen würde, auch wenn ich wüsste, dass er so endet.“ Ihre Stimme bricht ab. Wir sehen uns an. Die Worte hallen im Raum nach, füllen ihn mit Gefühlen, für die es eigentlich keine Worte gibt.  

 

Der Freitag dann, der 1. Juni 2018, war ein perfekter Tag. Ein Tag im Sommer, wie man ihn sich wünscht. Sonnig, heiß, mit Temperaturen um die 30 Grad. Ein Tag zum Schwimmen, Grillen oder faul auf dem Balkon oder auf der Terrasse liegen. Und es war der Tag, an dem Dennis sich auf den Weg machte. Sandy war bei ihm, begleitete ihn bis zum Schluss. Irgendwann hörte er auf zu atmen. Kurz danach entlud sich die Hitze des Tages, es donnerte und blitzte. „Als wäre der Himmel aufgegangen und Dennis wäre wütend eingetreten. Und hätte erstmal – mit wem auch immer – geschimpft“, erinnert sich die zweifache Mutter. Ich schaue hoch. Zu dem Regal an der Wand, zu dem gerahmten Foto, was dort steht. Rotblondes Haar, Lachfalten um die Augen, ein 5-Tage-Bart und ein strahlendes Lächeln, was man erwidern möchte. Sofort, weil es so echt ist. So lebendig. 

 

Hallo Dennis. 

 

Ja, ich kann es mir vorstellen.

 

Nach dem ersten Schock wird schnell klar, dass Sandy und die Mädchen es allein nicht schaffen. Es allein auch nicht schaffen wollen. „Ich habe mich erkundigt und war schockiert. Die meisten Hilfsangebote waren entweder nicht aktuell oder es gab Wartelisten. Bei „Kindesglück & Lebenskunst e.V.“ war das anders.“ Sandys Stimme ist wieder fester, sie lehnt sich etwas vor. „Dörthe Bräuner hat sofort auf meinen Anruf reagiert und ohne groß nachzufragen, die Hilfe des Vereins angeboten. Das war unglaublich“, erklärt sie und lächelt. Sarah besucht seitdem die Kinder-Trauergruppe, Emma die für Teenager und Sandy trifft sich alle zwei Wochen mit der Trauergruppe für Erwachsene. Alle drei Gruppen werden geleitet durch ausgebildete Trauerbegleiter, die mit viel Sensibilität und Fachwissen auf die Bedürfnisse der jeweiligen Altersgruppe eingehen. Sandy, Sarah und Emma haben aber auch schon Einzelstunden nehmen können. Finanziert durch Spenden, auf die der Verein angewiesen ist. „Wir sind unendlich dankbar dafür. Dieser Austausch tut unfassbar gut. Wir möchten und können momentan nicht darauf verzichten.“

 

Dennis schaut vom Regal auf uns herab. Ich stoppe das Aufnahmegerät, nehme einen letzten Schluck Tee, stelle eine letzte Frage. „Mein Lebensmotto? Heute?“, Sandy runzelt die Stirn, überlegt kurz. „Ich habe nach seinem Tod per What’s App so eine Art Kettenbrief bekommen. In dem stand irgendwann der Satz: Das Beste kommt erst noch. Dieser Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Wir stehen auf, gehen zur Tür. Es ist fast Mittag. „Ich war das Beste für Dennis. Solange es uns gab. Aber jetzt gibt mir die Vorstellung Kraft, dass das Beste auch für mich nicht vorbei ist, sondern noch auf mich wartet“, sagt sie leise. „Irgendwann, irgendwo.“

 

Ich steige ins Auto, lasse den Motor an und fahre rückwärts von der Auffahrt. Lachende Schulkinder kommen mir entgegen, als ich aus dem Neubaugebiet hinauskomme. Wieder biege ich falsch ab, muss wenden, ärgere mich dieses Mal aber gar nicht, sondern atme tief durch. So tief, dass es im Bauch kneift. 

 

Alles ist so wie immer, denke ich, während ich nach Hause fahre, es ist schon verrückt, aber die Welt dreht sich weiter. Immer weiter. 

 

Es ist die Liebe, die bleibt. 

 

(Text von Christina Haacke, Schirmfrau des Vereins Kindesglück & Lebenskunst e.V.)